Christen, euren jüdischen Freunden geht es nicht gut

Als jüdische Menschen, die an Jesus glauben, stehen wir oft zwischen zwei Welten.

Auch wenn wir von der jüdischen und der christlichen Gemeinschaft manchmal missverstanden werden, sind wir in der einzigartigen Lage, die beiden Welten miteinander zu verbinden. Insbesondere können wir nichtjüdischen Anhängern Jesu helfen, die jüdische Gemeinschaft besser zu verstehen und mit ihr zu sympathisieren. Und unseren nichtjüdischen Brüdern und Schwestern sagen wir in diesem Moment, dass eure Fürsorge und Unterstützung für das jüdische Volk jetzt mehr denn je gebraucht wird. 

Eine Flutwelle der Emotionen 

Am Samstagmorgen, dem 7. Oktober, wurde ich durch eine Nachricht in einer meiner WhatsApp-Gruppen darauf aufmerksam gemacht, dass in Israel etwas Schreckliches passiert ist. Ich rief eine israelische Nachrichtenseite auf und wurde in den viel zu langsamen Newsfeed hineingesogen. Es hatte einen Angriff gegeben. War es eine Invasion? Ein Terroranschlag? Ich begann, meinen israelischen Freunden zu schreiben, um sie zu fragen, ob es ihnen gut geht, und um sie wissen zu lassen, dass ich an sie denke und für sie bete. Ich war alleine mit meinen beiden kleinen Kindern, aber ich konnte meinen Blick nicht von meinem Smartphone lösen. Ich fühlte mich völlig eingenommen. Seitdem lässt mich das Thema nicht los.

Auch wenn ich kein Israeli bin, bin ich Jude, und ich bin erschüttert. Manchmal ist mir schlecht, manchmal bin ich wütend. Später bin ich ängstlich. Dann bin ich traurig. Die meiste Zeit kann ich nicht sagen, was ich fühle. Mein Mentor, ein Pastor aus meiner Studienzeit, hat mit mir telefoniert und mir ein Ventil gegeben. Ich habe mir selbst widersprochen. Ich bin mir sicher, dass meine Worte nicht immer Sinn ergeben haben. Ich sagte ihm: "Das waren die schlimmsten Wochen, an die ich mich erinnern kann." 

Wie viele amerikanisch-jüdische Menschen habe ich viel Zeit in Israel verbracht. Während meiner Studienzeit besuchte ich Israel viermal und lebte drei Monate lang in Haifa und Tel Aviv. Ich erwog, nach Israel zu ziehen oder sogar israelischer Staatsbürger zu werden. Ich kenne also viele Israelis persönlich. Freunde, die mich bei sich zu Hause aufgenommen haben, trauern um ihre Angehörigen. Kollegen und Freunde werden einberufen, um in einem Krieg zu dienen, der sehr gefährlich zu werden verspricht, und einige sehen zu, wie ihre heranwachsenden Kinder zum Dienst geschickt werden.

Aber selbst wenn all das nicht der Fall wäre - wenn ich Israel nie gesehen hätte, wenn ich kein bisschen Hebräisch sprechen würde, wenn ich keine Israelis kennen würde -, ich glaube, ich würde immer noch das fühlen, was ich im Innersten meines Wesens verspüre. 

Ich bin nicht allein 

Dies ist eine Krise, die praktisch jeder jüdische Mensch spürt. Dies war nicht nur der schlimmste Anschlag in der 75-jährigen Geschichte Israels - einer Geschichte voller Konflikte - sondern auch das schlimmste Massaker an Juden seit dem Holocaust.

Das ist einer der Gründe, warum die jüdische Gemeinschaft so erschüttert ist. Wir haben in unserer Geschichte viele Gräueltaten erlebt: Massaker während der Kreuzzüge, Zwangskonvertierungen und Folter während der spanischen Inquisition, Pogrome in Osteuropa, und die Liste geht weiter und weiter. Nachdem Holocaust sagten wir: "Nie wieder!" Israel sollte die Garantie dafür sein, dass Juden nie wieder Opfer eines Massenmordes werden würden. Israel würde in der Lage sein, nicht nur seine Bürger zu schützen, sondern auch die Würde und Sicherheit der Juden in der ganzen Welt zu gewährleisten. Dieses Gefühl der Sicherheit wurde am 7. Oktober erschüttert. 

Wir sind verpflichtet, uns zu freuen, wenn wir den Zyklus der Tora-Lesungen abschließen, aber wir waren in Angst und Schrecken. 

An jenem Samstagabend nahm ich an einer Veranstaltung zu Simchat Tora (Freude an der Tora) teil, einem jüdischen Feiertag, an dem wir uns freuen sollen, wenn wir den jährlichen Zyklus der Tora-Lesungen mit dem Deuteronomium abschließen und bei der Genesis wieder beginnen. Wir sollen mit Torarollen singen und tanzen. Aber wir hatten Angst. Eine der Rednerinnen, eine Rabbinerin, äußerte ihre Befürchtung, dass ihre Familie und Freunde in Israel Videos von ihrem Tanz sehen würden, während sie sich versteckten, nach geliebten Menschen suchten, ihre Toten betrauerten oder sich darauf vorbereiteten, ihre Kinder in den Krieg zu schicken.

Den nächsten Freitag rief die Hamas als "Tag des Zorns und des Dschihad" aus. In New York, wo ich lebe, und auf der ganzen Welt fragten wir uns, ob wir unsere Häuser sicher verlassen und unserem Alltag nachgehen könnten. Jüdische Menschen gingen in jüdische Schulen, Synagogen und andere Einrichtungen, wissend, dass wir Ziel antisemitischer Gewalt werden könnten.

Meine jüdischen Freunde, die an Jesus glauben, haben ebenfalls zu kämpfen. Ein Freund verließ unter Tränen einen Gottesdienst nach einer "taktlosen" Predigt über den Konflikt. Ein anderer schrieb einen Brief an seinen Pastor, indem er seinen Schmerz über die mangelnde Reaktion der Gemeinde auf den Angriff zum Ausdruck brachte. Ein anderer erwog, seine Kinder zu bitten, ihren jüdischen Schmuck nicht in der Schule zu tragen. Jüdische Menschen sind verletzt, auch jüdische Gläubige an Jesus. 

Was deine jüdischen Freunde brauchen 

Ich weiß nicht, wie es deinem jüdischen Freund geht. Jeder erlebt solche Schocks anders, und jeder von uns hat seine eigene Perspektive und sein eigenes Verständnis davon, was es bedeutet, Jude zu sein.

Es mag dich überraschen, dass dein jüdischer Freund diese Krise anders erlebt als du selbst. Vielleicht sind sie keine starken Unterstützer Israels. Vielleicht sprechen sie nicht viel über ihr Jüdischsein. Vielleicht sind sie nicht so religiös oder so politisch, oder sie teilen nicht deine politischen Ansichten. Ich weiß nicht, wie dein jüdischer Freund fühlt, und du wirst es auch nicht wissen, bis du ihn fragst. 

Ich weiß, wie es den Juden in meiner Gemeinde geht: Wir sind ängstlich, wir sind wütend, wir sind traurig, wir sind verwirrt, wir wollen an der Seite Israels stehen, wir wollen, dass die Hamas zerstört wird. Wir machen uns auch Sorgen um die im Gazastreifen lebenden Palästinenser, die eindeutig nichts mit der Hamas zu tun haben und die in keiner Weise für die begangenen Gräueltaten verantwortlich sind, die aber dennoch einen hohen Preiszahlen werden.  

Wir fragen uns, warum es einigen so schwerfällt, Gräueltaten an Juden zu verurteilen.

Wir sind besorgt über Antisemitismus und Islamophobie. Wir fragen uns, warum es manchen so schwerfällt, Gräueltaten an Juden zu verurteilen. Wir sind schockiert, dass Menschen, denen wir vertrauen, das Abschlachten jüdischer Männer, Frauen und Kinder in Israel feiern. Wir fragen uns, wie lange unsere Freunde noch zu uns stehen werden. Ich weiß das, weil ich mit jüdischen Menschen in meiner Umgebung gesprochen habe.

Ich kann dir sagen, dass ich unendlich dankbar für die nichtjüdischen Freunde bin, die sich per SMS oder Telefon bei mir gemeldet haben, um zu fragen, wie es mir geht. Sie ließen mich wissen, dass sie sich um mich sorgten und bereit waren, den Kontakt zu mir zu suchen in einer für mich wohl schrecklichen Zeit. Sie boten mir an, für mich und meine Freunde zu beten, und ich wusste das zu schätzen.

Bitte melde dich bei deinen jüdischen Freunden - auch wenn sie keine Israelis sind; auch wenn du seit Jahren nicht mit ihnen gesprochen hast; auch wenn du nicht weißt, wie sie reagieren werden - vor allem, wenn du nicht weißt, wie sie reagieren werden. 

Was soll ich sagen? 

Dies ist einer der Momente, in denen wir langsam zum Reden und schnell zum Hören sein sollten (Jakobus 1,19). Drücke dein Mitgefühl aus und frag, wie es den Betroffenen geht. Habe im Hinterkopf, einer trauernden Person zu begegnen.

Dies ist wahrscheinlich nicht der richtige Zeitpunkt, um eine politische oder theologische Position zu beziehen. Jüdische Menschen haben keine einschlägige Meinung zum israelisch-palästinensischen Konflikt und vertreten vielleicht nicht die Meinung, die du erwartest. Auch wenn die Bibel viel zu dieser Krise zu sagen hat, ist es wahrscheinlich nicht der richtige Zeitpunkt, biblische Binsenweisheiten oder Erklärungen zu biblischen Prophezeiungen anzubieten. Es ist die Zeit, "mit denen zu weinen, die weinen" (Römer 12,15).  

Wir lieben das jüdische Volk, und wir trauern mit euch.

Wenn wir jedoch sprechen, sollten wir uns über einige Dinge im Klaren sein. Es gibt keine Entschuldigung für Terrorismus. Alle Menschen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen und verdienen Würde. Du musst dich nicht "auf eine Seite schlagen", aber moralische Klarheit ist dennoch wichtig. Und wenn du nicht weißt, wie du es in deinen eigenen Worten ausdrücken sollst, sag einfach:"Wir lieben das jüdische Volk und trauern mit euch."

Bete

Wenn du für deinen Freund betest, lass ihn das ruhig wissen. Wenn du eine Gelegenheit siehst, kannst du ihm auch anbieten, mit ihm in diesem Moment zu beten. Die meisten jüdischen Menschen sind jedoch nicht an diese Art des Gebets gewöhnt. Sei also sensibel dafür und halte es kurz. Ein aufrichtiges, von Herzen kommendes Gebet um Gottes Trost und Frieden und um Gottes Befreiung in dieser Situation wird oft geschätzt.

Antwort auf schwierige Fragen 

Manchmal, wenn wir diese Tür im Gespräch mit einem Freund öffnen, werden schwierige Fragen aufgeworfen. Dein Freund könnte fragen: "Wie ist es möglich, dass Menschen einander so etwas antun?" oder "Wenn es Gott gibt, warum geschehen dann solche Dinge?"

Vielleicht kennst du apologetische Argumente,die diese Art von Fragen beantworten können, aber diese sind selten dierichtige Medizin für jemanden, der leidet. Oft werden diese Fragen ohne dieErwartung einer Antwort gestellt.

Es ist in Ordnung zu sagen: "Ich weiß es nicht" oder "Es ist schwer vorstellbar". Und manchmal ist es gut, mit einer positiven Bestätigung der Hoffnung zu antworten: "Wir wissen nicht, warum diese Dinge geschehen, aber wir haben die Hoffnung, dass Gott verspricht, die Welt zu erlösen." 

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