Der Stammbaum des Messias

Das Neue Testament zeigt, wie Jesus in der Linie von David und Abraham steht.

Das Neue Testament beginnt mit dem Stammbaum von Jesus. Es ist eine lange Liste jüdischer Namen, die seine Familie bis zu David und Abraham zurückverfolgt. Manche Leser wissen nicht recht, was sie damit anfangen sollen. Doch für uns Juden sollte der Grund, warum das Neue Testament hier anfängt, ganz selbstverständlich sein.

Für das jüdische Volk war Familie schon immer etwas Zentrales. Wir sind familienverbunden und daran interessiert, unsere Wurzeln zu kennen. Unsere Familiengeschichten helfen uns, zu verstehen, wer wir sind und wo wir hingehören.

In früheren Generationen (und teils auch heute noch) war Jichus – also eine gute Herkunft oder ein angesehener Stammbaum – wichtig, wenn es um die Wahl eines Ehepartners ging. Wenn jemand „der Sohn von Rabbiner So-und-so“ und „der Enkel von Rabbiner Dies-und-Das“ war, dann hatte man eine gute Partie!

Und wenn man noch weiter zurückgeht, sieht man, dass Stammbäume schon für unsere Vorfahren in biblischer Zeit eine große Rolle spielten. Deshalb ist die hebräische Bibel voll von Genealogien – langen (manchmal sehr langen) Listen mit Namen, Familien, Stämmen und Sippen. Für die Menschen damals hatten sie eine ganz praktische Bedeutung: Sie zeigten Zugehörigkeit, regelten Erb- oder Herrschaftsrechte und halfen, das Leben der Gemeinschaft zu ordnen.

Es überrascht also nicht, dass Matthäus, als er die Geschichte des Messias aufschrieb, mit Jesu Stammbaum begann. Und wenn wir verstehen wollen, warum das so wichtig war, brauchen wir die richtigen Schlüssel, um seine Bedeutung zu erschließen.

Moderne Namenslisten

Die langen Namenslisten der Bibel können uns vertrauter vorkommen, wenn wir sie mit modernen Listen vergleichen – nicht unbedingt mit Stammbäumen, aber dennoch mit Namenslisten, die uns etwas sagen wollen:

  • einem „Baum des Lebens“ oder einer Spendentafel in einer Synagoge, auf der die Namen der Geber stehen¹
  • der Liste der „Gerechten unter den Völkern“ in Yad Vashem²
  • den Namen auf der Vietnam Veterans Memorial Wall³

Solche Listen sind keine spannende Lektüre, aber sie erfüllen wichtige Aufgaben: Sie ehren, sie erinnern, sie halten Werte lebendig und regen uns an, dem Beispiel derer zu folgen, deren Namen dort stehen.

Solche Listen haben auch eine kumulative Wirkung, wenn man die Vielzahl der Namen betrachtet. Sie bringen uns dazu, über unseren eigenen Platz unter dem jüdischen Volk nachzudenken (z. B.: „Dieser Name klingt wie der meiner Familie.“ oder „Diese Familie stammt vielleicht aus dem Land meines Großvaters.“).

Die biblischen Stammbäume hatten eine ähnliche Wirkung. Die ersten Leser des Matthäusevangeliums konnten erkennen, dass Jesu Familiengeschichte Teil ihrer eigenen war. Manche der ersten Leser waren vermutlich sogar nahe Verwandte Jesu und teilten daher den größten Teil seines Stammbaums. Und mit der Erwähnung von Abraham und David war sofort klar: Jesus war Jude – wie sie selbst.

Der Stammbaum von Jesus

Gleich zu Beginn des Neuen Testaments heißt es:

„Das Buch der Geschichte Jesu, des Messias, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.“ (Matthäus 1,1)

(Die meisten modernen Übersetzungen sagen „Jesus Christus“, doch das bedeutet einfach „Jeschua, der Messias“ - die hebräischen Worte für Messias und Jesu Name, die über das Griechische ins Englische gelangt sind. Wir verwenden hier das Wort „Messias“, um das deutlicher zu machen.)

Viele jüdische Menschen haben das Neue Testament mit Vorbehalten aufgeschlagen – und wurden dann überrascht. So erzählt Mottel Baleston, der in einem jiddischsprachigen jüdischen Elternhaus in New York aufwuchs:

„Ich war etwa zwanzig, als ich beschloss, mehr über diesen jüdischen Jesus herauszufinden, und das Neue Testament las, um zu verstehen, ob es etwas mit meinem Volk zu tun hatte. Man hatte mich gewarnt, es sei ein Buch gegen die Juden – und so war ich erstaunt, als ich gleich im ersten Satz dieses ‚verbotenen Buches‘ las: ‚Dies ist das Buch der Geschichte Jesu, des Messias, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.‘
Im ersten Satz des ‚christlichen‘ Neuen Testaments werden drei Menschen genannt – und sie sind alle Juden! Als ich das Matthäusevangelium weiterlesen konnte, wurde mir klar, dass es eine jüdische Geschichte ist – in einem jüdischen Land, geschrieben von jüdischen Autoren über einen jüdischen Mann, der sagte, er sei nicht nur der Messias Israels, sondern der Retter der ganzen Welt. Alles, was ich über Rabbi Jesus las, zog mich an.“⁴

Nach diesem ersten Satz (Matthäus 1,1) folgt eine lange Liste von Jesu Vorfahren – noch bevor seine Geburt erzählt wird.

Der Sinn dieser Liste ist, uns zu zeigen, dass Jesus der verheißene Messias ist – die Erfüllung der Hoffnung Israels und der Beginn dessen, was Gott in der hebräischen Bibel über Erlösung verheißen hat. Schauen wir uns nun Abraham und David an, die beide im Stammbaum Jesu besonders hervorgehoben werden.

Abraham

Gleich am Anfang des Neuen Testaments wird Jesus als Nachkomme von David und Abraham vorgestellt. Abraham gilt als der Vater des jüdischen Volkes. Genauer gesagt, Abraham, Isaak und Jakob – denn Abraham und Isaak hatten auch andere Söhne, aus denen nichtjüdische Völker hervorgingen. Wer mit der jüdischen Liturgie oder der Bibel vertraut ist, kennt den Ausdruck „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“.

Abraham war derjenige, zu dem Gott sprach: Er solle sein Land verlassen und in ein neues ziehen, das Gott ihm zeigen würde – von Mesopotamien, etwa im heutigen Irak, in ein unbekanntes Land. Manche schreiben Abraham zu, den Monotheismus „erfunden“ oder zumindest erkannt zu haben, dass es nur einen wahren Gott gibt. Nach einer bekannten Midrasch-Geschichte war sein Vater Terach Götzenbildner. Abraham zerstörte eines Tages alle Götzen im Laden seines Vaters (oder war es eine Werkstatt?) und sagte, Götzendienst sei narischkeit – Torheit. (Natürlich sprach Abraham kein Jiddisch!)

Diese Midraschim sind interessant, aber sie stehen nicht in der Bibel. Was dort steht, ist Gottes Verheißung an Abraham (1. Mose 12,1–3):

„Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und wer dich verflucht, den will ich verfluchen. Und in dir sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden.“

Wer sind „alle Geschlechter der Erde“? Das sind die Völker – die Nichtjuden! Und was bedeutet „in dir“? Es bedeutet: durch Abrahams Nachkommen. Jahrhunderte später heißt es im Neuen Testament, Gott habe Menschen „aus jedem Stamm, jeder Sprache, jedem Volk und jeder Nation“ erlöst⁵. Das konnte nur wahr sein, weil Gott Abraham dieses Versprechen gegeben hatte.

Jesus ist die Erfüllung von Gottes Verheißung an den Patriarchen.

Die Betonung Abrahams im Stammbaum Jesu zeigt uns, dass Jesus – als Nachkomme Abrahams – die Erfüllung von Gottes Zusage ist. Das ist für unser Volk aus vielen Gründen bedeutsam, erklärt aber auch, warum so viele Nichtjuden aus allen Nationen Jesus nachfolgen.

David

Auch David, der bekannte König Israels, nimmt im Stammbaum Jesu einen wichtigen Platz ein. Er ist das Thema des bekannten jüdischen Liedes David, Melech Jisrael („David, König von Israel“). Die Website „My Jewish Learning“ schreibt:

„Die jüdische Tradition sagt, David sei nie gestorben. Zwar berichtet die Bibel von seinem Tod, doch nach langer Überlieferung lebt er weiter – in der Blutlinie des Messias, wie sie das Judentum kennt, und in der Linie Jesu von Nazareth, wie sie das Neue Testament beschreibt. Deshalb ist das Lied ‚David, Melech Jisrael, Chai, Chai, Vekayam‘ eigentlich ein messianisches Lied über Davids bleibende Bedeutung in der Geschichte. Es bedeutet: ‚David, König von Israel, lebt heute.‘“⁶

König David war ein Bild des kommenden Messias. Könige wurden mit Öl gesalbt, und „Messias“ heißt wörtlich „der Gesalbte“. Die Hoffnung richtete sich also auf einen zukünftigen, größeren David – und dieser erwartete Retter wurde schließlich schlicht „der Gesalbte“ oder „der Messias“ genannt. König David war sozusagen der Messias Version 1.0.

Der Zweck des Stammbaums Jesu

Jesus war also nicht nur ein Nachkomme Abrahams (und Isaaks und Jakobs) und damit eindeutig jüdisch, sondern auch ein Nachkomme Davids – und damit „berechtigt“, der Messias, der größere König David, zu sein. Die lange Liste der Namen, die folgt, stellt ihn mitten in die Geschichte Israels hinein.

Wenn wir an die oben genannten Gründe für moderne Namenslisten denken, können wir erkennen, wie Jesu Stammbaum in dieses Bild passt. Solche Listen können:

  • ehren. Matthäus zeigt uns Jesu Vorfahren über viele Generationen hinweg und macht deutlich: Jesus ist würdig, geehrt zu werden – als Jude, als Sohn Davids, als Mensch. Wenn wir diesen Stammbaum lesen, können wir fragen: „Was hat Jesus getan, dass er diese Ehre verdient?“
  • gedenken. Namenslisten rufen uns Menschen und ihre Taten in Erinnerung. Wenn wir Jesu Stammbaum betrachten, können wir fragen: „Was hat Jesus vollbracht, dass man sich seiner in dieser Weise erinnert?“
  • zum Nachdenken über die Vergangenheit anregen – und das hilft uns, in der Gegenwart zu leben. Wenn wir diese „Wand von Namen“ im ersten Kapitel des Matthäus sehen, dürfen wir fragen: „Was bedeutet Jesus für mein eigenes Leben als Jude?“

Der jüdische Denker Martin Buber nannte Jesus einmal „meinen Bruder“ und sah sich selbst in gewisser Weise in derselben Familie:

„Von meiner Jugend an habe ich in Jesus meinen großen Bruder gefunden. Dass das Christentum ihn als Gott und Erlöser ansieht, war für mich immer eine Tatsache von höchster Bedeutung, die ich – um seinet- und meinetwillen – verstehen möchte… Meine brüderliche Beziehung zu ihm ist im Laufe der Jahre stärker und klarer geworden, und heute sehe ich ihn deutlicher denn je. Ich bin überzeugt, dass ihm ein großer Platz in Israels Glaubensgeschichte zukommt – ein Platz, der sich mit keiner der üblichen Kategorien beschreiben lässt.“⁷

Jesus ist Jude. Was bedeutet das für dich?

  1. Wenn du so etwas noch nie gesehen hast: Eine schöne Auswahl findest du bei W&E Baum.
  2. Yad Vashem.
  3. Vietnam Veterans Memorial.
  4. Christiane Jurik (Hg.), What We Have Seen and Heard: Twenty-Three Jews Speak about Their Faith in Messiah, 2. Auflage, San Antonio: Ariel Ministries, 2015.
  5. Offenbarung 5,9.
  6. Jonathan Kirsch, „Fourteen Things You Need to Know About King David“, My Jewish Learning, Zugriff am 22. März 2024.
  7. Martin Buber, Two Types of Faith, New York: Syracuse University Press, 2003.

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