Ein jüdischer Gläubiger und Versöhnung

Ich erinnere mich noch lebhaft an den Versöhnungstag als ich zehn Jahre alt war.

Obwohl ich meine Bar-Mizwa noch nicht hatte, bestand ich darauf, ebenfalls zu fasten und an den Gottesdiensten in der Gemeinde teilzunehmen, obwohl meine Eltern dagegen waren. Schließlich wollte ich, dass meine Sünden vergeben werden!

Mit dem Eifer eines Kindes nahm ich an allem teil, was den Gottesdienst an diesem Tag ausmachte. Ich hörte aufmerksam der Schriftlesung zu, trug so gut ich konnte die alten hebräischen Gebete vor und wurde vom Rhythmus der Stimme des Kantors, der die Psalmen sang, im Innersten bewegt. Mit ganzem Herzen suchte ich die Vergebung von der ich glaubte, dass man sie bekam, indem man diesen Tag feierte. Das Gefühl, von Gott angenommen zu sein, war mir sicher, sofern man diese Annahme durch Aufrichtigkeit erlangen konnte.

Hat Gott meine Gebete wirklich gehört?

Aber sogar als ich diese Nacht nach Hause ging und mit meinem Vater durch die finsterten Straßen ging, blieben Fragen übrig, die mich verfolgten: Hat Gott meine Gebete wirklich gehört? Welche wirkliche Zusicherung habe ich, dass meine Sünden vergeben wurden? In den folgenden Jahren sollte Gott mich zu einer Antwort auf diese Fragen führen, denn ich sehnte mich nach inneren Frieden und nach der Wahrheit, die diese störenden Gedanken beruhigen würde.

Die Antworten, die ich von Zeit zu Zeit von meinen jüdischen Lehrern auf meine Fragen bekam, erwiesen sich als nicht ausreichend, denn sie beschwichtigten nicht meine Zweifel. Als ich dann schließlich ein Teenager und dann ein junger Erwachsener wurde, hörte ich auf, die Fragen zu stellen, auf die es offenbar keine Antworten gab. Ich studierte Naturwissenschaft, Ingenieurwesen und Philosophie und nahm an den Freuden des Lebens teil. Meine religiöse Schulung bewahrte mich davor, die größeren Sünden zu begehen, ich wurde aber schließlich ein Agnostiker, da die verschiedenen Philosophen mir keine sinngebenden Antworten gaben.

Trotz all dem Suchen betrachtete ich mich aber immer noch als Juden. Unter der Oberfläche und bereit, wieder erweckt zu werden, wenn die Zeit der Herausforderung kam, waren die unbeantworteten Fragen: Wer bin ich? Kann ich Gott erkennen? Was kommt nach dem Tod? Kann ich die eindeutige Zusicherung haben, dass meine Sünden vergeben sind?

Ich hatte meine Ausbildung zum Ingenieur abgeschlossen, nahm einen Job an und fand mich in der Situation, dass ich mit einem technischen Assistenten zusammen arbeitete, der leidenschaftlich an Jesus glaubte und dies auch kund tat. Er verschwendete keine Zeit und teilte seinen Glauben mit. Ich wiederum verschwendete keine Worte und sagte ihm, dass mich ein derartiger Glaube anwiderte. Ich fühlte mich durch seinen Eingriff in meinen Glauben, den ich durch frühere Schulung erlangt hatte, beleidigt, nämlich dass Jesus nach traditionell jüdischer Lehre ein Blender war. Ich wies mit deutlichen Worten darauf hin, dass Religion ein Tabu-Thema zwischen uns war.

Ich konnte wirklich nicht leugnen, dass – wenn Gott real war – auch die Sünde eine Realität zwischen mir und Gott war.

Jedoch erwies es sich als unmöglich für mich, die tägliche Begegnung mit dem Zeugnis meines Technikers zu vermeiden, mit seiner ausstrahlenden Art und Weise und der Kraft seiner Überzeugungen. Eines Tages forderte er mich heraus, doch einfach einmal die Schrift – inklusive dem geschriebenen Wort, das man das Neue Testament nennt – aufrichtig durchzulesen. Ich hatte das Gefühl, dass die einzige wirkliche Verteidigung gegen eine Herausforderung wie diese durch ein jüdisches Verständnis der hebräischen Schriften kommen würde. Das war bestimmt der einzige Hintergrund, vor dem ich dem Neuen Testament und diesem Jesus, den ich für einen Blender hielt, Gehör geben könnte. Ich war gekränkt, dass mein Gehilfe darauf bestand, dass seine Sünden gesühnt sind, denn das führte dazu, dass die alte Frage, die mich immer verfolgte, wieder zurückkehrte: Wie konnte ich wissen, dass meine Sünden vergeben waren? Ich konnte wirklich nicht leugnen, dass – wenn Gott real war – auch die Sünde eine Realität zwischen mir und Gott war.

Als ich damit anfing, die hebräischen Schriften zu lesen, entdeckte ich etwas bezüglich meiner Vorfahren, das mich mit aller Macht traf: Ich fand heraus, dass sie eine intime und persönliche Beziehung zu Gott hatten. Abraham und Moses sprachen mit Gott, Jakob rang mit Ihm, David schrieb über ein Sicher-sein über Seine Gegenwart, Solomon suchte und erhielt Weisheit von Ihm, Elijah hörte Ihn sprechen und rief Ihn sogar um Zeichen und Wunder an. Sie sahen, wie der Allmächtige in ihrem Leben tätig wurde – warum also nicht ich? Wo war Gott in meinem Leben? Das Judentum aber stellt Gott so weit weg vom einzelnen Menschen, dass man an der Frage, wo man Ihn findet, verzweifelt. Das war ein Bereich, der in meinem Kopf entwirrt werden musste: Was sagte die Heilige Schrift und was waren die von den Rabbis gedeuteten Ergänzungen der Überlieferung?

Es war eine Quelle des Leids und der Frustration, dass mein nichtjüdischer Freund, der an Jesus glaubte, ebenso vertraut von Gott sprach wie das diese Menschen taten, über die ich gelesen hatte. Die alten Fragen über Gott, Sündenvergebung und meine Beziehung zum Gott meiner Väter kamen wieder hoch, dieses Mal aber nicht in einem Kind, das das Problem zur Seite schieben konnte und erwartete, dass später eine Antwort darauf gefunden werden würde, sondern in mir als einen Erwachsenen. Ich wusste, dass ich dieses Mal Antworten auf meine religiösen Fragen finden musste – mehr noch, ich musste meine Integrität als ein verantwortungsvolles Wesen behaupten, das in der Lage war zu lernen, logisch zu denken, zu fragen und auszuwählen.

Von den religiösen Lehrstunden noch aus meiner Kindheit erinnerte ich mich an die Stelle, an der ich beginnen würde. Ein heiliger Gott konnte Sünde nicht gutheißen. Ich studierte erneut die Schriftverse, die mit Sühne zu tun hatten. In Wajikra (Levitikus) Kapitel 16 wird die Einhaltung des Versöhnungstages beschrieben. Die Erfordernisse des heiligsten Tages im jüdischen Kalender werden von Moses detailliert dargelegt. Kurz gesagt leistete der Hohepriester zunächst Sühne für sich selbst und seine Familie durch das Darbringen des Sühneopfers. Dann wurde die Sühne für die Sünden der Menschen geleistet. Dafür wurden zwei Ziegenböcke ausgewählt und der Hohepriester warf das Los über sie, eines für den Herrn und das andere für Asasel (den Sündenbock).

Ein heiliger Gott konnte Sünde nicht gutheißen.

Die Priester schlachteten den Ziegenbock, der für den Herrn ausgewählt wurde und versprengten sein Blut auf das Sühnmal im Allerheiligsten und ebenso vor dem Sühnmal. Der Schwerpunkt bei diesem Ziegenbock war, dass er – insofern, als er stellvertretend für die Menschen vor dem Herrn stand – die Sünden der Menschen am Versöhnungstag trug. Wenn der Hohepriester den Ziegenbock tötete, sah unser Volk anschaulich, dass die Strafe für Sünde der Tod ist. Gott lieferte aber in Seiner liebevollen Güte einen Ersatz, der an Stelle unseres Volkes starb.

Das war aber nur die halbe Lektion. Da gab es auch noch das ungeheure Gnadengeschenk Gottes, dass der Sündenbock des Herrn im Tod sein Leben für unser ganzes Volk gab. Das war damals ein „Austausch von Leben“, das Herz der Sühne. Das Bild ist anschaulich insofern, als die sündigen Leben unseres Volkes auf den Sündenbock übertragen wurden, was wiederum dessen Tod verursachte. Im Tod dieses Sündenbocks wurde jedoch das Leben des Tieres dem Volk gegeben. Gott sah daraufhin Israel als von der Sünde gereinigt und im Besitz eines neuen Lebens an.

Das Opfer sollte auch persönlich gemacht werden. So wie Einzelne den „Austausch von Leben“ auf sich selbst bezogen, wurden ihre persönlichen Sünden vergeben.

Der andere Aspekt des Opfers am Versöhnungstag diente dazu, die persönliche Sündervergebung mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Der Hohepriester legte seine Hände auf den zweiten Sündenbock und übertrug ihm dadurch symbolisch die Sünden des Volkes. Dann wurde der Sündenbock in die Wildnis getrieben, wodurch Gottes Absicht verdeutlicht wurde, nicht mehr an die Sünden gegen Sein Volk zu denken. Das verdeutlichte, dass Erneuerung, also ein neuer Beginn, möglich war und dass die Vergangenheit nicht für immer an der Gemeinschaft oder dem Einzelnen haftete. Diejenigen, die das für sich selbst verstanden, waren der Vergebung ihrer Sünden sicher und wurden in eine persönliche Beziehung zu Gott gebracht.

Als ich Gottes Anweisungen an Moses bezüglich der Sühne las und darüber nachdachte, stellte ich fest, dass vor mir die Antwort auf die Frage war, die ich mir selbst als Junge gestellt hatte. Was mich von Gott trennte, war meine Sünde und nur Gott konnte diese Sünde wegnehmen – so viel wusste ich.

Ich wusste, was die meisten Juden zu dieser Darstellung von Moses sagen würden. Einige würden antworten: „Wir folgen dieser Prozedur nicht mehr, weil wir keinen Tempel mehr haben und außerdem sollten wir uns um ethische Fragen kümmern – darüber, was richtig ist – und nicht um diese alten Rituale.“ Viele Angehörige unseres Volkes würden hinzufügen, dass die Rabbis die Art und Weise sowie die Mittel entwickelt haben, wie wir Gott in der Zeit des Versöhnungstages begegnen sollten.

Genau hier aber hatte ich ein großes Problem. Wann veränderte Gott das Konzept des „Austausches von Leben“ in Levitikus? Sagte Gott jemals, dass wir das in einen Sühne-Akt allein der Buße, der Gebete und guten Taten ändern sollten? Dies findet sich mit Sicherheit nirgends im Gesetz der hebräischen Schrift.

Im mündlichen Gesetz – den jüdischen Traditionen – nahmen die Rabbis ein Judentum ohne Tempel auf (70-90 nach der christlichen Zeitrechnung). Als Erklärung hierfür wird angegeben, dass wir durch das Bereuen unserer Sünden, durch ein Leben des Gebets und durch das Verrichten von Mitzwas (guter Taten), Vergebung für unsere Sünden zu erlangen hoffen. Ich weiß, dass die Rabbis die Halacha (die Entwicklung neuer Gesetze) benutzen, um das Gesetz der Schrift neu zu interpretieren und es dadurch jeder Generation ermöglichen, dieses zu leben. Hat Gott aber jemals diese Entscheidungen bezüglich der grundlegenden Lehre der Versöhnung und Sündenvergebung abgesegnet oder der Abkehr vom biblischen Prinzip des „Austausches von Leben“ Seine Zustimmung gegeben?

Das Neue Testament lehrt, dass es da jemand genannt Jesus gab, der zur Opfergabe für den Herrn wurde.

Als mir mein Freund, der Techniker, Seinen Glauben an Jeschua (Jesus) mitteilte, beschrieb er die Idee eines leidenden, sterbenden und auferweckten Messias. Offensichtlich stimmte das nicht mit dem überein, was man mir als Jungen beigebracht hatte. Als ich jedoch genau Moses‘ Darstellung der Sühne studiert hatte und nachdem ich Jesu Behauptungen, der versprochene Messias zu sein, genau überprüft hatte, konnte ich eine Beziehung zwischen dem feststellen, was Moses beschrieb und Jesu Wirken. Das Neue Testament lehrt, dass es da jemand genannt Jesus gab, der zur Opfergabe für den Herrn wurde und der alleine unsere Sünden von uns nehmen kann. In anderen Worten kam Er, um genau das zu tun, was in Levitikus für den Versöhnungstag beschrieben wird.

Viele Juden scheuen vor dem Namen Jeschua zurück und behaupten, Er hätte eine weitere Religion für Nichtjuden begründet. Hört aber dem zu, was Jesus selbst lehrte als Er als Jude unter Seiner Generation des jüdischen Volkes lebte:

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Johannes 10,10. Einheitsübersetzung)

Er erklärte auch:

„Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.“ (Lukas 24,26-27. Einheitsübersetzung)

In Seinem inneren Kampf mit dem symbolischen Kelch unserer Sünde vor Seinem Tod stöhnte Er in Seinem Gebet:

„Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. (…) Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte.“ (Lukas 22,42.44. Einheitsübersetzung)

Was Paulus betrifft, so wollen zu viele Menschen meines Volkes nichts mit ihm zu tun haben und behaupten, er hätte den jüdischen Glauben nicht nur hellenisiert, sondern auch heidnische Glaubensüberzeugungen angenommen und auch eine neue Religion begründet. Achtet aber darauf, wie Paulus‘ Erklärung der Sühne direkt auf dem beruht, was unser Lehrer Moses bereits gelehrt hatte. Er sah die Verbindung zwischen dem Grund für Jeschuas Tod und dem Tod des stellvertretenden Tieropfers im Zusammenhang des Versöhnungstages.

„Er hat den, der keine Sünde kannte [Jeschua als die Opfergabe für den Herrn], für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.“ (2. Korinther 5,21. Einheitsübersetzung)

Die grundlegende Frage, der ich begegnete, als ich das Neue Testament und die Geschichte unseres Volkes im 1. Jahrhundert untersuchte, war, ob Paulus und Tausende anderer jüdischer Menschen zu dieser Zeit die Auffassung des „Austausches von Leben“ in den hebräischen Schriften verändert hätten. Haben das die jüdischen Autoren des Neuen Testaments getan? Nein, haben sie nicht! Sie haben vielmehr mit dem weiter gemacht, was die hebräischen Schriften so genau dargelegt haben. Der einzige Unterschied war, dass es anstatt eines Ziegen-Opfers und eines Sündenbocks der Messias selbst war, der (1) stellvertretend starb, indem Er unsere Sünden auf sich selbst nahm, (2) uns in Seinem Tod neues Leben gibt, wenn wir es annehmen möchten und (3) Er unsere Sünden von uns nimmt, sodass wir niemals mehr damit belastet werden.

Das ist eine Sühne, bei der wir wissen, dass unsere Sünden vergeben wurden. Es ist eine Erlösung, durch die wir die Zusagen haben, dass unsere Namen in das Buch des Lebens aufgenommen wurden, nicht nur für ein weiteres Jahr, sondern für alle Ewigkeit. Meine Untersuchung hat mich zu diesen Schlussfolgerungen gebracht. Die Sündenvergebung, die ich von Kindheit an gesucht habe, wurde erreicht durch Jeschua.

Ich habe herausgefunden, dass durch den Empfang des „Austausches von Leben“ nun die Schechina, oder der Heilige Geist, in mir wohnte und mich mit einer Dynamik dazu befähigte, das Moral-Gesetz zu leben. Indem ich viele Jahre mit dem Herrn ging, habe ich begonnen, diese Dynamik umso mehr zu schätzen, das aus dem Leben eine triumphierende Erfahrung macht. Es ist nicht Gottes Wille, dass das Leben nichts mehr als eine legalistische Schinderei ist. Er erwartet auch nicht, dass wir nach irgendeiner mystischen Erfahrung suchen, die nur dazu führt, dass auch weiterhin die quälende und ärgerliche Frage hochkommt, ob eine Beziehung zu Gott wirklich möglich ist.

Eine lebendige personifizierte Beziehung zu Gott, der in der Tat persönlich ist.

Menschen, die einsam und niedergeschlagen sind, ohne Hoffnung und voller Schuldgefühle, werden nie einen Sinn in dieser Welt finden ohne eine lebendige personifizierte Beziehung zu Gott, der in der Tat persönlich ist. Indem uns die Sündenvergebung bewusst wird, können wir erfahren, was mit den Philosophien dieser Welt nicht möglich ist. Auch können wir eine Hoffnung haben, dass wir eines Tages bei Gott sein können, wenn wir dieses Leben verlassen. Gott hatte beabsichtigt, dass wir diese Erfahrung machen und es liegt nur an uns, danach zu fragen.

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