„Möge dein Name im Buch des Lebens eingeschrieben sein“ ist der in der jüdischen Neujahrszeit häufigste Gruß.
Dieser antike Glaube kann bis Mesopotamien zurückverfolgt werden. Babylonische Religionsschriften sprechen von „Tafeln der Übertretungen“ und „Tafeln der Bestimmung“, die das Schicksal des Menschen festhalten. Wenn ein Name auf den Sünden-Tafeln festgehalten war, so war er auf der Tafel der Bestimmung ausgelöscht. Dieser Legende zufolge kamen jedes Jahr alle Götter in einem besonderen Zimmer des Himmels, dem „Zimmer des Schicksals“, zusammen. Marduk, der Hauptgott, hatte den Vorsitz des Treffens. Nabu, der Gott der Weisheit und Literatur, machte Notizen und hielt das Schicksal jedes einzelnen Menschen schriftlich fest. Ferner taucht das Konzept des „Buch des Lebens“ auch in den Tafeln der neo-assyrischen Zeit auf und es scheint auch einen Hinweis auf die gleiche Vorstellung in einem antiken sumerischen Gedicht zu geben.
Wegen dieser Schriften glauben manche jüdischen Gelehrten, dass das Sefer Chayyim (Buch des Lebens) als ein Resultat des babylonischen Einflusses in die jüdische Tradition übernommen wurde. Wer weiß, ob es nicht die Babylonier waren, die von der alten jüdischen Erkenntnis beeinflusst wurden, bevor es von den Bibelschreibern übertragen wurde?
Auch andere Theorien wurden als Ursprung der Vorstellung vom Buch des Lebens vorgebracht. Manche sagen, es hängt mit der Bürgerliste oder -register des alten Judäa zusammen, das alle Namen der vollberechtigten Bürger festhielt. Die Idee von einem himmlischen Register, sagt man, könnte von diesem irdischen System abgeleitet worden sein, so dass die Zugehörigkeit zum Buch des Lebens die Zugehörigkeit zum geistlichen Königreich bedeutet.
Die Mischna besagt, dass im Buch des Lebens die Taten des Menschen festgehalten werden: „Wisse, was über dir ist, ein sehendes Auge und ein hörendes Ohr, und deine Taten, in einem Buch aufgeschrieben.“ (Avot 2.1)
Die Sprüche der Väter vergleicht das Leben auch mit einem Laden und dessen offenen Haushaltsbuch mit Haben und Soll. Dieses Konzept zu Ende führend kommt man zur Schlussfolgerung, dass gute Taten schlechte Taten auslöschen können – oder auch umgekehrt. Oder so wie R. Simeon B. Yohai es ausdrückt: „Wenn ein rechtschaffener Mensch anfängt, Unrecht zu tun, dann nützt ihm seine ganze frühere Rechtschaffenheit nichts – sie kann ihm nicht das Leben retten.” (Hesekiel 33,12) Und selbst wenn jemand sein ganzes Leben lang ganz böse ist, aber am Ende bereut, dann wird ihm seine Bosheit nicht vorgeworfen, denn es heißt: “und was die Bosheit des Gottlosen betrifft, wird er nicht darüber stolpern an dem Tag, an dem er sich von seiner Bosheit abwendet.“ (Qidduschin 40a-b)
Eine der bekanntesten Interpretationen über Gericht und Vergebung finden wir in Rosch ha-Schana 16b:
„Drei Bücher werden an Rosch ha-Schana geöffnet: Eins für die komplett Gerechten, eins für die komplett Bösen, und eins für die Dazwischenliegenden. Die komplett Gerechten werden sofort in das Buch des Lebens eingeschrieben; die komplett Bösen werden sofort in das Buch des Todes eingetragen und das Urteil über die Dazwischenliegenden wird vom Rosch ha-Schana bis Yom Kippur aufgeschoben. Falls sie sich würdig erweisen, werden sie für das Leben eingeschrieben; wenn sie als unwürdig befunden werden, dann werden sie für den Tod aufgeschrieben.“
Auch jüdische Liturgie-Schriften erwähnen das Sefer Hayyim: Zakhrenu Le-Hayyim („Behalte uns für das Leben im Gedächtnis“) ist ein Gebet, welches im täglichen Gottesdienst von Rosch ha-Schana bis Yom Kippur, dem Versöhnungstag, aufgesagt wird. Man liest: „Gedenke an uns, bis wir das ewige Leben erlangt haben, oh König, der sich am Leben freut, und schreibe uns in das Buch des Lebens ein, um Deiner selbst willen, oh Gott des Lebens.“
U-Netanneh Tokef, ein höchst ergreifendes und bewegendes liturgisches Stück, beschreibt, wie der Tag des Gerichts sein wird: „Lasst uns die mächtige Heiligkeit des Tages verkünden, denn er ist ehrwürdig und ehrfurchtsgebietend.“ Das Gebet bestätigt „Es ist wahr, dass du richtest und zurechtweist, Du unterscheidest zwischen Gut und Böse und legst Zeugnis ab, Du hältst fest und versiegelst, Du zählst auf und bemisst; Du bringst die Dinge die vergessen wurden in Erinnerung. Du legst das Buch der Erinnerungen offen, und es spricht für sich selbst, denn jedermanns Siegel befindet sich darin.“
Bis zu diesem Punkt klingt das Gebet sehr unheilvoll, da es dem Menschen wenig Hoffnung auf ein positiven Urteilsspruch gibt. Aber dann schließt es mit drei Möglichkeiten, um die Strenge des Urteils abzuschwächen. Teshuvah ist einer davon. Es wird normalerweise mit „Reue“ übersetzt. Die wörtliche Übersetzung jedoch würde es besser wiedergeben: „zurückkehren“. Man wird keine neue Person, aber man kehrt zur „Herzensgüte“, die nach rabbinischem Verständnis angeboren ist, zurück. Tefillah ist der zweite Weg, Dinge wieder ins Lot zu bringen. Es wird normalerweise mit „Gebet“ übersetzt und bedeutet „sich anhängen“. Der Mensch soll seine Bindung zu Gott verstärken. Tzedakah, der letzte Weg zur Vergebung, kommt vom Hebräischen Wort „Gerechtigkeit“ und wird als „Barmherzigkeit“ übersetzt. Gerechtigkeit fordert, dass der Mensch anderen abgibt.
Nach dem rabbinischen Verständnis sind es diese drei, Teshuvah, Tefillah und Tzedakah, die einem Menschen den Eintrag ins Buch des Lebens sicherstellen. In Chagiga 27a können wir nachlesen: „Zu der Zeit, als der Tempel stand, war es der Altar, der einer Person Sühne brachte; nun bringt der Tisch einer Person ihm Sühne (indem er einem Armen Gastfreundschaft erweist).“ Anders ausgedrückt: ohne das Tempelopfer für unsere Sünde können wir nun auf Taten der Barmherzigkeit bauen, um uns Zugang zu Gottes Buch des Lebens zu verdienen.
Die Bibel malt uns jedoch ein anderes Bild über dieses Hauptbuch, seinen Ursprung und seinen Inhalt.
Mose wusste, wer dieses Buch des Lebens entstehen ließ. Als er Gott auf der Spitze des Berg Horeb anflehte, nachdem die Kinder Israels die große Sünde mit dem goldenen Kalb begangen hatten, rief er: „Ach Herr, das Volk hat sich schwer gegen dich vergangen! Einen Gott aus Gold haben sie gemacht. Vergib doch ihre Schuld! Wenn nicht, dann streiche meinen Namen aus dem Buch, in dem die Namen der Deinen eingetragen sind.“ (2. Mose 32,31-32) So ist also Gott selbst der Autor und Hüter des Buch des Lebens.
Was ist im Buch aufgezeichnet? Gemäß der Bibel: Alles! König David merkt an, dass sogar seine Tränen in das himmlische Protokoll eingetragen sind. (Psalm 56,9) Der Psalmist spricht auch davon, dass die Tage, die ihm bestimmt waren, in Gottes Buch aufgeschrieben wurden, bevor er überhaupt geboren wurde. (Psalm 139,16)
Und wer wird aus dem Buch getilgt? Gottes Antwort auf Moses Flehen für die Kinder Israels war: „Ich streiche nur den Namen dessen aus meinem Buch, der sich gegen mich vergangen hat.“ (2. Mose 32,33)
Nun hat sich aber doch Jeder gegen den Allmächtigen vergangen. Bedeutet das, dass gemäß der Bibel alle aus dem Buch des Lebens getilgt werden? Nein. Gott ist gerecht, aber er ist auch gnädig. In seiner Gnade hat er immer eine Möglichkeit zur Sühne gegeben, so dass wir das Leben wählen könnten.
Der Tag der Versöhnung (Jom Kippur) wird zum ersten Mal im 3. Buch Mose erwähnt. Es ist ein ehrwürdiger Tag, betont durch Fasten und Beten zu Gott zur Vergebung der Sünden, die wir gegen ihn begangen haben. In den Tagen des Tempels war der Hohepriester die Schlüsselfigur in der Vermittlung zwischen Menschen und Gott. An diesem einen Tag im Jahr betrat er das Allerheiligste. An diesem einen Tag im Jahr nahm er eine lebende Ziege, legt die Hände auf dessen Kopf und bekannte „alle Vergehen der Israeliten und alle Übertretungen, und auch all ihre Sünden.“ So übertrug er symbolisch die Sünden des Volkes auf das Opfertier. Dieser Sündenbock wurde zum Opfer, in Vertretung für den menschlichen Sünder. Indem er das stellvertretende Opfer annahm, konnte Gott sein Volk im Buch des Lebens einschreiben. Deshalb macht es Sinn, dass die Liturgie des Versöhnungstages mit einem Gebet für die Eintragung im Buch des Lebens schließt, aber mit der Bitte, dass man darin versiegelt ist.
Mit dem zerstörten Tempel, der aufgelösten Priesterschaft und dem Stillstand der Opfer fühlten die Priester, dass sie improvisieren mussten. Sie begründeten vernünftig: „Reue und barmherzige Taten sind Fürsprecher vor dem Thron Gottes.“ (Shab. 32a.) „Aufrichtige Reue ist gleichwertig mit dem Wiederaufbau des Tempels, der Wiederherstellung des Altars und der Darbringung aller Opfer.“ (Pesik., ed. Buber 24.158; Lev. R. 7.; Sanh. 43b.) Die Bibel lehrt uns diese Wege jedoch nicht als Eintrag in das Buch des Lebens, denn es gibt keinen Zugang zur Vergebung ohne einen Mittler, einen Fürsprecher. Mose erfüllte diese Rolle, als er bei Gott darum flehte, dass die Kinder Israels nicht aus dem Buch des Lebens ausgetilgt werden. Der Hohepriester tat das ebenfalls.
Wer kann uns heute vertreten? Nur Gott selbst. Und das tat er auch, in der Person Jesu. Als Jesus seinen irdischen Dienst antrat, kündigte ihn der Prophet Johannes als „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnehmen wird“ an. Jesus diente als stellvertretendes Opfer, das „Sündenlamm“ Gottes.
Im Machsor, dem Gebetsbuch für den Versöhnungstag lesen wir:
„Unser gerechter Gesalbter ist von uns gegangen: Das Grauen hat uns ergriffen und wir haben niemanden, der uns rechtfertigen kann. Er hat das Joch unserer Übertretungen und unserer Verfehlungen getragen und wurde wegen unserer Verfehlungen verwundet. Er trägt unsere Sünde auf seiner Schulter, so dass er Vergebung für unsere Übertretungen finden kann. Durch seine Wunden sollen wir geheilt sein – zu dem Zeitpunkt, an dem der Ewige ihn (den Messias) als neue Kreatur erschaffen wird.“
(Frei übersetzt von „Prayer for Day of Atonement“. Revidierte Ausgabe Seiten 287-88. Rosenbaum & Werbelowsky, New York, 1890)
Mit unserer Sünde auf Jesus, Gottes gerechtem Gesalbten, kann Gott uns als gerecht und würdig ansehen, um in das Buch des Lebens eingetragen zu werden.
Jesus erzählte denen die glaubten, dass er der Gesalbte Gottes sei, „…freut euch lieber darüber, dass eure Namen bei Gott aufgeschrieben sind!“ (Lukas 10,20) Scheint es seltsam, den Gedanken, die Eintragung ins Buch des Lebens zu feiern, mit der Person Jesus in Verbindung zu bringen? Der jüdische Neujahrsgruß “Le shanah tova tikatev ve-tehatem” ist mehr als ein wunderlicher Brauch. Es ist ein Ausdruck der Hoffnung auf Gottes Annahme und Vergebung.
Zur Zeit Christi ließen die alten biblischen Traditionen zur Sühne nach. War das nur zufällig? Das Kaparah oder Opfertier, das Sühnung schafft, taucht nirgendwo im modernen Judentum auf – im ursprünglichen Judentum jedoch ist die Sühne durch Opfer wesentlich und essenziell: „Denn im Blut ist das Leben. Ich habe bestimmt, dass alles Blut zum Altar gebracht wird, um Schuld zu sühnen. Weil im Blut das Leben ist, schafft es Sühne für verwirktes Leben.“ (3. Mose 17,11)
Wenn man das Konzept Gottes, der die ewige Bestimmung des Menschen festlegt, vollständig verstehen will, kann man mit dem Lesen der Bibel nicht nach dem Alten Testament aufhören. Genauso wenig kann man sich erlauben, sich vom Wald der widersprüchlichen Aussagen des Talmud ablenken zu lassen. Um zu verstehen, muss man die Fortsetzung der Bibel lesen, die gemeinhin Neues Testament genannt wird. Dort kann man die wahre Bedeutung des Buch des Lebens finden und entdecken, wie eine Person dauerhaft für die Ewigkeit eingeschrieben wird:
„Alle, die durchhalten und den Sieg erringen, werden solch ein weißes Kleid tragen. Ich will ihren Namen nicht aus dem Buch des Lebens streichen. Vor meinem Vater und seinen Engeln werde ich mich offen zu ihnen bekennen.“ Offenbarung 3,5
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde. Der erste Himmel und die erste Erde waren verschwunden und das Meer war nicht mehr da. Ich sah, wie die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich geschmückt wie eine Braut für ihren Bräutigam.Aber nichts Unreines wird Einlass finden. Wer Götzen anbetet und sich nicht an die Wahrheit hält, kann die Stadt nicht betreten. Nur wer im Lebensbuch des Lammes aufgeschrieben ist, wird in die Stadt eingelassen.“ Offenbarung 21, 1-2,27
Hätte das Judentum Gottes System der Sühne durch Opfer nicht wegrationalisiert, dann wäre es nicht dazu gekommen, die Person und das Sühnewerk Jesu als fremdartig zu empfinden. Gäbe es keine humanistischen und humanitären Werte als Ersatz für Gottes Wertesystem, würde nicht dann Gottes Hilfs-Plan mit Jesus als „Sünden-Lamm“ Sinn gemacht haben?
Was für ein Paradox konfrontiert den modernen Juden! Wäre er ein treuer Jude nach der Bibel und nicht bloß nach den Traditionen der Menschen; oder wäre er ein Jude nach Gottes Vorstellung, dann müsste er in des Lammes Buch des Lebens stehen und damit ein Nachfolger von Jesus, dem Messias, sein.