Jom Kippur im Tanach und im Neuen Testament

Wie sich die Praxis der Hohen Feiertage im Judentum von der Antike bis zur Neuzeit verändert hat.

Jom Kippur – der zweite der beiden Feiertage, die die Hohen Feiertage im jüdischen Kalender bilden – gilt als der feierlichste Tag des Jahres. Viele jüdische Menschen, die an anderen Gelegenheiten die Synagoge nicht besuchen, nehmen dennoch an den Gottesdiensten zu Rosch ha-Schana und besonders zu Jom Kippur teil. Manche Dinge ändern sich nie; der jüdische Philosoph Philo aus dem ersten Jahrhundert schrieb, dass Jom Kippur „sorgfältig eingehalten wird nicht nur von den Eifrigen in Frömmigkeit und Heiligkeit, sondern auch von denen, die ihr Leben sonst niemals religiös gestalten.“¹ So groß ist das Gewicht von Tradition und Verpflichtung innerhalb der Gemeinschaft.

Jom Kippur im Tanach

Wie man sich vorstellen kann, war Jom Kippur in biblischer Zeit völlig anders als die heutige Praxis. Damals gab es keine Synagogen, jedenfalls nicht vor dem babylonischen Exil. Stattdessen stand der Mittelpunkt der Anbetung im Heiligtum – zunächst in der Stiftshütte (in der frühesten Geschichte) und später im Tempel (seit den Tagen König Salomos).

Es gab kein Kol Nidre, kein Al Chet-Gebet, kein Avinu Malkenu.

Was geschah an Jom Kippur? Es gab kein Kol Nidre, kein Al Chet-Gebet, kein Avinu Malkenu. Es gab auch keinen Rabbiner, sondern einen Kohen (Priester), der eine Vielzahl von Zeremonien im Heiligtum/Tempel vollzog. Die Kohanim standen tatsächlich das ganze Jahr über den Tieropfern vor – Rituale, die uns heute fremd sind. Es gab tägliche Opfer (auch Gaben genannt), ebenso an Festtagen und am wöchentlichen Schabbat: Stiere, Ziegen und Lämmer; manche zum Vergeben von Sünden, manche, um eine Mahlzeit und Gemeinschaftszeit zu ermöglichen.

Rituale des Jom Kippur

Der Versöhnungstag war auf Buße und Vergebung ausgerichtet. Tiere wurden das ganze Jahr über geopfert, damit der Reumütige göttliche Vergebung empfangen konnte. Aber an Jom Kippur war es so, als würden alle Sünden des Volkes, für die bisher noch keine Opfer gebracht worden waren, nun gesühnt werden. 3. Mose 16 ist das Kapitel, das die Rituale im Detail beschreibt. Hier eine Zusammenfassung:

Die Rituale sollten eindrucksvoll sein und Ehrfurcht erwecken. Zuerst brachte der Hohepriester – von allen Priestern war er der einzige, der die Rituale von Jom Kippur vollziehen durfte – ein Stieropfer für sich selbst und seine eigenen Sünden dar, nachdem er weiße Kleidung angelegt hatte. Dann nahm er Räucherwerk und trat in das Allerheiligste, den innersten Raum des Heiligtums/Tempels. Nur er durfte diesen heiligen Raum betreten, und nur einmal im Jahr an diesem Tag. Der Rauch des Räucherwerks verhüllte die Bundeslade, die mit dem Sühnedeckel bedeckt war, wo Gott zwischen den beiden goldenen Cherubim wohnte. Auf diese Weise sollte der Hohepriester nicht „schauen“ auf Gott, der zu heilig war, um gesehen zu werden. Das Blut des Stieres wurde auf den Sühnedeckel und davor gesprengt, um für den Hohenpriester und das ganze Priestertum zu sühnen. All das wiederholte sich mit einem Ziegenbock, um für die Sünden des Volkes zu sühnen. Weiße Kleidung, rotes Blut, süßer Weihrauch, Rauch – alles zusammen ergab ein sehr eindrucksvolles, alle Sinne ansprechendes Ritual.

Ein weiteres dramatisches Element war das zweite Tier: Der Hohepriester legte seine Hände auf den Kopf des Ziegenbocks, bekannte die Sünden Israels und schickte das Tier dann in die Wüste. Dies symbolisierte die Entfernung der Sünden des Volkes. Da er „entkam“ in die Wüste, wird er heute „Sündenbock“ genannt – ein Begriff, der bekanntlich sprichwörtlich für jemanden geworden ist, der die Schuld anderer trägt.

Jom Kippur im Neuen Testament

In den ersten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts stand der Tempel noch – bis zu seiner Zerstörung durch Rom im Jahr 70 n. Chr. Das bedeutet, dass zu den Tagen Jeschuas (Jesu) und seiner ersten Nachfolger Jom Kippur ein fester Bestandteil des jüdischen Lebens war, mit Priestern und Opfern. Der Tag wird in der Apostelgeschichte als „das Fasten“ erwähnt, was eine übliche Bezeichnung für diesen Tag war:

„Wir fuhren aber viele Tage langsam und kaum bis gegenüber von Knidos; da uns aber der Wind nicht weiter zuließ, fuhren wir unter Kreta hin gegen Salmone hin; und indem wir mit Mühe an ihm hinsegelten, kamen wir an einen Ort, der Kaloi Limenes heißt, in dessen Nähe die Stadt Lasea war. Da aber viel Zeit verflossen und die Fahrt schon unsicher war, weil auch das Fasten schon vorüber war, riet Paulus und sprach zu ihnen: Ihr Männer, ich sehe, dass die Fahrt mit Gefahr und großem Schaden nicht nur der Ladung und des Schiffes, sondern auch unseres Lebens bevorsteht.“ (Apostelgeschichte 27,7–10)

Jom Kippur fiel in den September oder Oktober, und im Mittelmeer wurde die Schifffahrt mit dem Beginn des Winters immer gefährlicher. Während der Hinweis auf „das Fasten“ hier als Marker für die Gefahren des Reisens dient, wissen wir doch, dass Paulus und andere jüdische Jeschua-Nachfolger weiterhin als praktizierende Juden lebten – Jom Kippur bildete da keine Ausnahme. Der Verfasser der Apostelgeschichte, Lukas (ob er jüdisch war oder nicht, ist bis heute umstritten), betrachtete es offensichtlich als etwas, mit dem er vertraut war.

Das Thema von Jom Kippur – Sühnung – findet sich im gesamten Neuen Testament.

Mehr noch als diese eine Erwähnung des Tages aber findet sich das Thema von Jom Kippur – Sühnung – im gesamten Neuen Testament. Interessanterweise war es an einem anderen Fest, dem Passah, dass Jeschua über seinen bevorstehenden Tod sprach, dessen Zweck Sühnung sein sollte:

„Und er nahm einen Kelch und dankte und gab ihnen den und sprach: Trinkt alle daraus! Denn dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ (Matthäus 26,27–28)

Das Passahfest war ein passender Anlass für Jeschua, dies zu sagen, da die Vergebung der Sünden eine Art Befreiung ist, die das Passahfest feiert. Es gibt jedoch eine noch engere Verbindung zum Thema der Sühnung im sogenannten Hebräerbrief, der an jüdische Nachfolger Jeschuas gerichtet war:

„Auch nicht, damit er sich selbst oftmals opfere, wie der Hohepriester jedes Jahr in das Heiligtum hineingeht mit fremdem Blut – sonst hätte er oftmals leiden müssen seit Grundlegung der Welt. Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der Zeitalter offenbar geworden zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer.“ (Hebräer 9,25–26)

Hier verwendet der Schreiber ein doppeltes Bild: Jeschua ist der Hohepriester, der für die Sünden des Volkes sühnt, und er ist zugleich selbst das Sühnopfer. Dieses Bild, dass ein Hoherpriester sich selbst als Jom-Kippur-Opfer darbringt, muss für einen Leser des ersten Jahrhunderts erstaunlich gewesen sein – doch es macht den entscheidenden Punkt: Jeschua gab sein eigenes Leben als Sühnung für uns. Auch wenn es nicht mit diesen Worten gesagt wird, so stellt das Neue Testament den Tod Jeschuas als das endgültige Jom Kippur für alle Zeiten dar.

  1. Philo, Special Laws 1.186.

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