Als ich das erste Mal von den Luftangriffen in Gaza hörte, dachte ich: Gut. Der Gedanke ließ mich zurückschrecken, und noch mehr erschrak ich über meine mangelnde Fähigkeit, mit dem Leiden des palästinensischen Volkes mitzufühlen. Ich war verblüfft, denn obwohl meine Familie jüdisch ist und wir Israel lieben, wurde ich dazu erzogen, Mitgefühl und Empathie für die Palästinenser zu empfinden.
Meine Mutter studiert Geschichte des Nahen Ostens und setzt sich leidenschaftlich für die Palästinenser ein. Wenn wir nach Israel reisten, war es uns wichtig, auch Araber in Israel und im Westjordanland zu besuchen. Während meines Studiums habe ich einen Sommer lang als Freiwillige in einem Camp für israelische und palästinensische Kinder gearbeitet, in dem es um Versöhnung ging. Ich wurde dazu erzogen, die Sorge um die Palästinenser als eine Erweiterung der jüdischen Werte und als eine Konsequenz unseres Glaubens an Jeschua zu sehen. Dennoch bin ich nicht immun gegen die Tendenz, mich auf die Seite meines „Volkes“ zu stellen und meine "Feinde" zu entmenschlichen.
In dem Schock, dem Entsetzen und der Trauer, die wir nach dem blutigen Gemetzel der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung erlebten, war es schwer, den Palästinensern Mitgefühl entgegenzubringen. Ein Israeli, der sich in der Vergangenheit für ein gegenseitiges Verständnis zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt hat, sagte in einem Podcast: "Das Leid der Palästinenser ist mir im Moment einfach egal. Ich sage das nicht mit Stolz.... Ich frage mich, was dieser Krieg mit unserer Seele anstellen wird."1
Innerhalb und außerhalb Israels trauern die Juden um ihre getöteten Angehörigen und leben in Angst vor Antisemitismus. Die Palästinenser trauern um ihre eigenen getöteten Angehörigen und leben in Angst vor Islamophobie. Beide Gruppen haben das Gefühl, dass sie zum Schweigen gebracht werden, wenn sie sich zu Wort melden. In diesem Umfeld ist es nicht nur schwierig, Mitgefühl für die Feinde unseres eigenen Volkes zu haben, es fühlt sich auch illoyal an.
Ich behaupte zwar nicht, dass ich aus israelischer Sicht spreche oder die komplexen Zusammenhänge der nationalen Sicherheit Israels verstehe, aber ich glaube, dass die Bibel viel darüber aussagt, wie Gott sein Volk auf solche Momente reagieren lässt. Obwohl die biblische Lehre über Krieg und Frieden komplex ist und es verschiedene Interpretationen gibt, gibt es ein vorherrschendes Thema, das die Herangehensweise der Schrift an diese Frage vereint: Der Gott der Bibel ist ein Gott des Mitgefühls und liebt alle Menschen. Er verlangt auch von seinem Volk, dass es diesen Aspekt seines Charakters widerspiegelt, indem es seine Liebe für die ganze Menschheit nachahmt.
Eines der eindrucksvollsten und beunruhigendsten Beispiele ist das Buch Jona. Gott rief Jona, um gegen die Stadt Ninive zu predigen und zu verkünden, dass die Zeit für ihr Gericht gekommen sei. Obwohl Jona zunächst vor dem Ruf Gottes flieht, geht er schließlich nach Ninive, um die Botschaft zu überbringen. Es ist fast unglaublich, dass Ninive daraufhin Buße tut und Gott sie nicht vernichtet.
Jona reagiert auf ihre Reue auf eine überraschende Weise:
Und es missfiel Jona sehr, und er wurde zornig. Und er betete zum Herrn und sagte: Ach, Herr! War das nicht meine Rede, als ich noch in meinem Land war? Deshalb floh ich schnell nach Tarsis! Denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und einer, der sich das Unheil gereuen lässt. (Jona 4,1-2)
In Jona's Klage steckt eine große Ironie. Indem er Gottes Eigenschaften der Barmherzigkeit und der Gnade beschreibt, wendet er sich nicht nur gegen das, was Gott getan hat, sondern auch dagegen, wer Gott ist. Jona sagt, dass er fürchtete, Gott würde sich der Niniviten erbarmen, weil das dem Charakter Gottes, wie Israel ihn kannte, entsprechen würde.
Israel kann sich darauf verlassen, dass Gott uns vergibt, denn dies entspricht dem Wesen Gottes
Jona zitiert Exodus 34,6-7, wo Mose Gott anfleht, Israel nach der Sünde des goldenen Kalbes zu vergeben. Dies ist ein dramatischer Höhepunkt in der sich entfaltenden biblischen Geschichte: Gott offenbart seinen wesentlichen Charakter, wie er wirklich ist. Israel kann sich darauf verlassen, dass Gott uns vergibt, denn dies entspricht dem Wesen Gottes.
Jona hat kein Problem damit, dass Gott Israel Barmherzigkeit und Mitgefühl entgegenbringt. Aber er lehnt es ab, dass Gott mit den Ninivevölkern genauso handelt. Und warum? Weil Ninive Israels Feind ist.
Zu jener Zeit war Ninive die Hauptstadt des assyrischen Reiches, der mächtigsten Nation der Welt und ein bekanntermaßen grausamer Feind. Die Assyrer waren berüchtigt dafür, Gefangene zu foltern und Gräueltaten zu begehen, um psychologische Kriegsführung zu betreiben.
Wir können also verstehen, warum Jona gegen Gottes Barmherzigkeit Einspruch erhebt. Sie war nicht gerecht; Gott zog die Niniviten nicht für ihre Sünden zur Rechenschaft. Darüber hinaus versäumte er es, eine sehr reale Bedrohung für Israel zu beseitigen.
Gott fordert Jona heraus. Er setzt eine Pflanze ein, die Jona vor der Sonne schützen soll, aber dann setzt er einen Wurm ein, der die Pflanze tötet. Nachdem Gott einen heißen Wind bestellt hat, wünscht sich Jona den Tod. Das Buch schließt mit einer Frage, die Gott Jona stellt:
Und Gott sprach zu Jona: Ist es recht, dass du wegen des Rizinus zornig bist? Und er sagte: Mit Recht bin ich zornig bis zum Tod! Und der HERR sprach: Du bist betrübt wegen des Rizinus, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand und als Sohn einer Nacht zugrunde ging. (Jona 4:9-10)
Im Hebräischen heißt es, dass Jona "Mitleid" mit der Pflanze hatte. Gott lehrt Jona zu verstehen, dass er Mitleid mit den Niniviten hat, weil er ihr Schöpfer ist. Anders als Jona sieht er sie nicht in erster Linie als "Feinde" oder Objekte der Zerstörung. Sie sind Menschen, die b'tselem Elohim, "nach dem Bilde Gottes", geschaffen wurden. Er sorgt sich um jeden einzelnen von ihnen - alle hundertzwanzigtausend.
Wir kennen Jona's Antwort nicht, weil wir an Jona's Stelle stehen und uns die gleichen Fragen stellen sollen: Tun wir gut daran, unsere Feinde zu hassen? Sind sie nicht auch Menschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurden?
Diese Geschichte erinnert mich an Hesekiel 33,11, wo Gott erklärt: „Wenn ich Gefallen habe am Tod des Gottlosen! Wenn nicht vielmehr daran, dass der Gottlose von seinem Weg umkehrt und lebt!“ Diese Lektion wurde bei unserem Pessach-Seder immer wieder betont: Juden freuen sich nicht über das Leiden anderer, auch nicht über das Leiden unserer Feinde.
Jahrhunderte später nahm Jesus diese Lehre aus dem Tanach auf und brachte sie in ihre direkteste und unangenehmste Form. Die Zeit Jesu bzw. der Verfasser des Neuen Testaments war eine besonders gewalttätige Epoche der jüdischen Geschichte. Das Römische Reich besetzte das Land Israel, und die in Judäa und Galiläa lebenden Juden waren mit Misshandlung, Missbrauch und Gewalt durch ihre römischen Unterdrücker bestens vertraut. Sie sehnten sich nach einem Messias, der die Römer besiegen und sie aus dem Land Israel vertreiben würde.
Vor diesem Hintergrund ist die Lehre Jesu schockierend:
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist! Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr allein eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die von den Nationen dasselbe? (Matthäus 5:43-47)
Der Satz "Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen" entstammt der allgemeinen menschlichen Einstellung - wir bevorzugen die Angehörigen unserer eigenen Gruppe. Die Tora aber gebietet: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Levitikus 19,18), ohne Einschränkung. Die Lehre Jesu steht also im Einklang mit den höchsten Idealen der jüdischen Schriften.
Die Tora hat zwar diese hohen Ideale, aber sie ist auch realistisch, was die menschliche Natur betrifft. Die Gesetze der Tora über Vergeltung sollten den natürlichen Drang nach Rache zugunsten der Gerechtigkeit zügeln. Jesus lehrt, dass seine Jünger einen höheren Maßstab anlegen sollen, als die Tora vorsah.
Jesus lehrte seine Jünger, dem Bösen gewaltlos zu widerstehen.
Im Gegensatz zu den Eiferern seiner Zeit, die Israels Freiheit durch einen gewaltsamen Sturz der römischen Unterdrücker erringen wollten, lehrte Jesus seine Anhänger, dem Bösen gewaltlos zu widerstehen. Das war nicht nur theoretisch; er lehrte seine jüdischen Jünger, wie sie nicht nur auf das Böse im Allgemeinen, sondern speziell auf das römische Böse, das sich gegen Juden richtete, reagieren sollten. Er lehrte seine Jünger, ihre Feinde zu lieben und für sie zu beten und ihnen nicht zu widerstehen, wenn sie ihnen Böses antaten.
Die Lehre Jesu scheint für Menschen, die sich mit Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gewalt und Terrorismus auseinandersetzen müssen, nicht sehr realistisch zu sein. Wie sollen die Gläubigen an Jesus diese Lehren in die Praxis umsetzen? Unter den Anhängern Jesu gibt es zwar Diskussionen darüber, wie diese Lehren zu verstehen sind, aber es gibt einige klare Schlussfolgerungen.
Erstens: Wir sollen für unsere Feinde beten. Das bedeutet, dass wir zwar für unsere Regierung und unsere Soldaten beten, aber auch für diejenigen, die uns schaden wollen. Das bedeutet, dass wir für die Hamas, die Hisbollah und andere terroristische Gruppen und ihre Anhänger beten sollten. Natürlich beten wir nicht dafür, dass sie erfolgreich sind (wir beten dagegen!), aber wir beten dafür, dass sich ihre Herzen ändern. Psalm 83,16 ist ein gutes Beispiel dafür: „Bedecke ihr Gesicht mit Schande, damit sie deinen Namen, HERR, suchen!“
Zweitens: Wir sollten unsere Feinde mit Mitgefühl behandeln. Wir sollten keine entmenschlichende Sprache oder Handlungen verwenden, die ihre Menschenwürde verletzen. Wie Jesus in Lukas 6:27-31 sagt,
„tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch fluchen; betet für die, die euch beleidigen! Dem, der dich auf die Backe schlägt, biete auch die andere dar; und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch das Untergewand nicht! Gib jedem, der dich bittet; und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso!“
Drittens erinnern wir uns daran, dass unsere einzigen wahren Feinde geistiger Natur sind. Selbst Terroristen wie die Hamas werden von dämonischen Kräften gefangen gehalten, die Menschen täuschen und zu Hass und Gewalt verleiten. In der Heiligen Schrift heißt es: „Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistigen Mächte der Bosheit in der Himmelswelt.“ (Epheser 6,12).
Zwar gibt es Ideologien, die für Gottes Volk objektiv böse sind (wie Antisemitismus oder Rassismus), doch kann kein Mensch "rein böse" oder "rein gut" sein. Obwohl jeder Mensch gefallen und durch die Sünde verdorben ist, bleibt er Gottes sehr gute Schöpfung und befindet sich nicht außerhalb von Gottes Fähigkeit, erlöst zu werden.
Viertens müssen wir uns als Nachfolger Jesu immer wieder daran erinnern, dass wir auf beiden Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts geistliche Verwandte haben. Es mag natürlich sein, dass jüdische und israelische Jesusgläubige mehr mit Israel sympathisieren und palästinensische und arabische Jesusgläubige mit den Menschen in Gaza. Das Neue Testament lehrt jedoch, dass wir als Nachfolger Jesu ungeachtet unserer ethnischen Herkunft Teil derselben geistlichen Familie sind. Auch wenn wir mit anderen Christen in politischen Fragen nicht übereinstimmen, müssen wir uns daran erinnern, dass wir immer noch Brüder und Schwestern im Messias sind und für die Ewigkeit vereint sind.
Schließlich haben wir die einzige Botschaft der Hoffnung, die in der Lage ist, Feinde in Brüder und Schwestern zu verwandeln. Das Evangelium ist der uralte Friedensplan Gottes, der Juden und Heiden, Israelis und Palästinenser versöhnen kann, weil er Gottes Feinde mit ihm versöhnt.